Laudatio
zu Marie Illners Gedicht „Oder?“
Marie Illners Gedicht „Oder“
spricht den Leser auf Anhieb durch seine Aktualität an und lenkt behutsam den
Blick auf humanitäre Katastrophen der Gegenwart.
Die ersten drei der
insgesamt vier knappen Strophen vermitteln durch ihren einfachen und parallelen
Aufbau den Eindruck großer Monotonie. Phänomene wie „Lärm“, „Regen“ und „Feuer“
werden im Hinblick auf ihre Wahrnehmung durch Menschen, die sich mit
geschlossenen Augen in unmittelbarer Nähe befinden, thematisiert. So heißt es
etwa lakonisch:
„Neben Lärm
Ist es laut
Auch mit geschlossenen Augen“
Die zunächst trivial
wirkenden Feststellungen zu Sinneswahrnehmungen von Feuer, Lärm und Regen,
werden jedoch in der vierten und letzten Strophe in ein neues Feld geführt.
Gegenstand sind hier „Zäune“ und die Frage, was hinter Zäunen geschieht. Hier
wird ein latentes Wissen abgerufen, dass „Auch mit geschlossenen Augen“ im
Bewusstsein abgerufen werden kann.
Der hierbei evozierte mögliche
Zusammenhang zwischen „Zäunen“ und „Leid“ kann vom Menschen als einem fühlenden
Wesen, das auch Naturereignisse wie „Feuer“ durch bloße Wärme erahnen kann,
nicht geleugnet werden. Er muss das Leid nicht erst sehen,...
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damit es als Bild
aufscheinen kann. Konnte die Wahrnehmung in Verbindung mit Naturphänomen
überpüft werden, wird hier eine Behauptung eingefügt, deren Wahrscheinlichkeit
jedoch angesichts der Weltsituation, die durch Armut, Krieg und
Fluchtbewegungen gezeichnet ist, sehr groß ist. Da hilft auch kein Wegschauen. Ereignisse
und Auswirkungen sind wie bei Naturphänomene eng miteinander verbunden.
Das von der Autorin an das Textende
gesetzte „Oder?“ zeugt davon, dass sie sich ihrer fragwürdigen Analogie
durchaus bewusst ist. Daher spricht sie die Leser direkt an und fordert sie auf,
Einwände vorzubringen und den Beweis zu führen, dass der hergestellte Zusammenhang
möglicherweise falsch ist. Marie Illner ist sich aber vermutlich durchaus
bewusst, dass ein solcher Versuch kläglich scheitern wird. Es gelingt ihr, mit
einfachen Worten, an die Tradition des politischen Gedichts anzuschließen, die
in den vergangenen Jahrzehnten nur wenig gepflegt wurde.
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