Laudatio
zu Jürgen Brôcans Gedicht „fliehende Zimmer“
Beim Lesen der
Gedichtüberschrift haben wir sofort eines der zahlreichen Interieurs von Vilhelm Hammershøi vor Augen: Ein Zimmer, leer bis auf wenige Gegenstände, niemand
ist da, die Tür ist offen. Sie gibt den Blick frei in ein weiteres Zimmer, auch
dort Leere, wieder eine offene Tür, durch die der nächste Raum sichtbar ist. Vielleicht
sind es diese Räume in den Räumen, die sich wie Bilder in Bildern vom Vordergrund entfernen und den Blick
des Betrachters immer tiefer in das Gemälde und seine Stimmung aus Stille und
Leere hineinziehen, was Jürgen Brôcan zu dem Titel fliehende zimmer
inspirierte. Wie auf den Interieurgemälden des dänischen Malers scheint auch im
Gedicht die Zeit stillzustehen. Es gibt keine Handlung. Spiegel werden
aufgerufen, in denen sich ein paar wenige Möbel in ihrer Reglosigkeit treffen.
Die Spiegelbilder öffnen zwar den Raum, verdoppeln jedoch nur die zu ihm
gehörigen Dinge. Sie verstärken die meditative Stimmung des Gedichts, die schon
am Anfang mit der Frage wovon träumen spiegel angelegt ist. Die Sprache ist
einfach, zählt auf, was das Auge sieht. ...
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Alles wirkt irgendwie geordnet und doch
beziehungslos, nicht einmal die Schatten der wenigen Gegenstände berühren sich.
Dann ist die Szenerie fertig beschrieben, mehr gibt es nicht. Die Dinge selbst
fügen außer ihrer Anwesenheit nichts weiter hinzu, sie sagen nichts. Der Text fährt
an den Rand des Schweigens. Genau an diesem Punkt schlägt das Gedicht plötzlich
um, nimmt Fahrt auf und bekommt inhaltlich und sprachlich eine überraschende
Dynamik: nur ein wenig Licht fällt ein, sagt zur frau am fenster. Eine Handlung
beginnt. Und so unvermittelt wie beiläufig erfährt der Leser von der Existenz
einer Person im Zimmer, so als würde diese eben erst jetzt entdeckt. Zu ihr
spricht das Licht. Diesem Medium, flüchtiger als die Dinge selbst, die es zur Wahrnehmung bringt, diesem Phänomen,
das Hammershøi ein Leben lang faszinierte und das in seinen Bildern die
„eigentliche Hauptrolle“ spielt, ihnen
ihre unverwechselbare, hypnotische Wirkung verleiht, gibt Jürgen Brôcan eine
Stimme. Sie fällt der Stille ins Schweigen, freilich nur, und das ist das Rafinierte,
um das gefüge der stille zu bewahren. Sie konstruiert einen geheimnisvollen
Zusammenhang zwischen der hypothetischen Bewegung der Frau am Fenster, dem
Betrachter und der Schönheit. Eine in ihrer Wirkung und Begrifflichkeit mehr
als erstaunliche Sprachhandlung, die jedoch dem Leser, der möglicherweise immer
noch auf der Suche nach Verweisen auf einen Sinnzusammenhang, der außerhalb des
Kunstwerks liegt, ist, nicht entgegenkommt. Die Sprache verweist auf das
Gedicht selbst. Es ist das, wovon es spricht: ein Gefüge der Stille. So entzieht
es sich, wie die Bilder Vilhelm Hammershøis, auf virtuose Weise der Funktionalität,
den Versuchen einer es transzendierenden Deutung. Vielleicht deshalb der Titel:
fliehende zimmer.
Axel Görlach
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