Laudatio zu Silke Schuemmers
Gedicht „IN DER PETRISCHALE
WIRD ES FRÜHER TAG (20) – Engel“
Das Setting ist auf den
ersten Blick klar: Silke Andrea Schuemmers Gedicht Aus: In der Petrischale wird
es früher Tag (20) versetzt den Leser direkt in ein Labor. Gleichzeitig findet
er aber auch Begriffe wie Engel, verweht, Erzürnte, die weder von der Bedeutung
noch vom Stil her direkt mit einer nüchternen Laboratmosphäre in Verbindung gebracht
werden können. Dazu gibt uns die Autorin Hinweise auf einen anderen Text: die
erste der Duineser Elegien von Rainer Maria Rilke. Während sich dort ein
lyrisches Ich mit den Widersprüchen der conditio humana fragend, klagend, preisend
und in immer neuen Reflexions- und Singbewegungen auseinandersetzt, spricht in diesem
Gedicht ein wir. Es scheint menschlich zu sein, aber ist es schon Produkt eines
Experiments oder noch dessen Ausgangsmaterial? Jedenfalls berichtet es von den Vorgängen
im Labor und beschreibt sich selbst als absolut passiv. Das wir wird
infiltriert (ähnlich dem Beimpfen einer Petrischale zum Erzeugen von
Zellkulturen), geatmet, durchwandelt, verlassen und ist Transportvorgängen...
zwischen künstlichen Welten unterworfen.
Sind die Engel bei Rilke Gegenbilder zum Menschen, schön und schrecklich
zugleich, sind diese im Gedicht von Silke Andrea Schuemmer zumindest Teil eines
übergriffigen, gewalttätigen Vorgangs, in dem das Menschliche wie Nährboden genutzt
wird, um Anderes wachsen zu lassen. Das wir wird dabei physisch und psychisch beschädigt
und aufgebraucht. So ist es konsequent, dass das in den Plural verschobene Zitat
Wer wenn wir schrieen hörte uns denn nicht mit „aus der Engel Ordnungen“ fortgesetzt
wird. Die Klage, die ohnehin hypothetisch ist, würde als bloßer Hilfeschrei verhallen.
Selbst der Assistent, ein möglicher Adressat der Klage, schweigt. Er wird als Flügelmacher
beschrieben und spätestens hier drängt sich neben der Assoziation eines Todesengels
ein weiterer Gedanke auf. Stellt man sich, wie Kinder naiv, Engel als
geflügelte Wesen vor, könnten auch die Engel im Gedicht das Produkt eines
Experiments sein. Auch sie sind Gefangene, schweben im Labor. Und während in
der ersten Duineser Elegie noch sinniert wird: „Ach, wen vermögen wir denn zu
brauchen? Engel nicht, Menschen nicht“, wäre eine mögliche Antwort des Gedichts
mit der Nummer 20: Beides, Mensch und Engel, sind Versuchsobjekte,
Laborexistenzen – von ihnen wird Gebrauch gemacht. Vielleicht deshalb auch der
weit ausgerückte, sehr klein und in Klammern gesetzte, vieldeutige Untertitel: (ach
rilke). Konstruiert Silke Andrea Schuemmer mit diesem Gedicht eine düstere
Zukunftsvision? Gibt es neben dem Assistenten vielleicht auch einen Laborleiter,
der plant, koordiniert, überwacht? Was geschieht hier genau und zu welchem
Zweck? Es ist bemerkenswert, wie die Dichterin Begriffe aus weit auseinanderliegenden
Sphären verknüpft und mit deren empirischen und metaphysischen
Bedeutungsinhalten und Konnotationen spielend einen unerhörten, unheimlichen Vorgang
komponiert. Dass dieser letztendlich mehr Fragen aufwirft als er Antworten gibt,
ist eine der Stärken des Textes.
Axel
Görlach
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen