Samstag, 19. November 2016

Preistexte 2016 in der Kategorie Lyrikerinnen und Lyriker NRW: Silke Andrea Schuemmer

Laudatio zu Silke Schuemmers Gedicht „IN  DER  PETRISCHALE  WIRD  ES FRÜHER TAG (20) – Engel“
Das Setting ist auf den ersten Blick klar: Silke Andrea Schuemmers Gedicht Aus: In der Petrischale wird es früher Tag (20) versetzt den Leser direkt in ein Labor. Gleichzeitig findet er aber auch Begriffe wie Engel, verweht, Erzürnte, die weder von der Bedeutung noch vom Stil her direkt mit einer nüchternen Laboratmosphäre in Verbindung gebracht werden können. Dazu gibt uns die Autorin Hinweise auf einen anderen Text: die erste der Duineser Elegien von Rainer Maria Rilke. Während sich dort ein lyrisches Ich mit den Widersprüchen der conditio humana fragend, klagend, preisend und in immer neuen Reflexions- und Singbewegungen auseinandersetzt, spricht in diesem Gedicht ein wir. Es scheint menschlich zu sein, aber ist es schon Produkt eines Experiments oder noch dessen Ausgangsmaterial? Jedenfalls berichtet es von den Vorgängen im Labor und beschreibt sich selbst als absolut passiv. Das wir wird infiltriert (ähnlich dem Beimpfen einer Petrischale zum Erzeugen von Zellkulturen), geatmet, durchwandelt, verlassen und ist Transportvorgängen...
zwischen künstlichen Welten unterworfen. Sind die Engel bei Rilke Gegenbilder zum Menschen, schön und schrecklich zugleich, sind diese im Gedicht von Silke Andrea Schuemmer zumindest Teil eines übergriffigen, gewalttätigen Vorgangs, in dem das Menschliche wie Nährboden genutzt wird, um Anderes wachsen zu lassen. Das wir wird dabei physisch und psychisch beschädigt und aufgebraucht. So ist es konsequent, dass das in den Plural verschobene Zitat  Wer wenn wir schrieen hörte uns denn nicht  mit „aus der Engel Ordnungen“ fortgesetzt wird. Die Klage, die ohnehin hypothetisch ist, würde als bloßer Hilfeschrei verhallen. Selbst der Assistent, ein möglicher Adressat der Klage, schweigt. Er wird als Flügelmacher beschrieben und spätestens hier drängt sich neben der Assoziation eines Todesengels ein weiterer Gedanke auf. Stellt man sich, wie Kinder naiv, Engel als geflügelte Wesen vor, könnten auch die Engel im Gedicht das Produkt eines Experiments sein. Auch sie sind Gefangene, schweben im Labor. Und während in der ersten Duineser Elegie noch sinniert wird: „Ach, wen vermögen wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht“, wäre eine mögliche Antwort des Gedichts mit der Nummer 20: Beides, Mensch und Engel, sind Versuchsobjekte, Laborexistenzen – von ihnen wird Gebrauch gemacht. Vielleicht deshalb auch der weit ausgerückte, sehr klein und in Klammern gesetzte, vieldeutige Untertitel: (ach rilke). Konstruiert Silke Andrea Schuemmer mit diesem Gedicht eine düstere Zukunftsvision? Gibt es neben dem Assistenten vielleicht auch einen Laborleiter, der plant, koordiniert, überwacht? Was geschieht hier genau und zu welchem Zweck? Es ist bemerkenswert, wie die Dichterin Begriffe aus weit auseinanderliegenden Sphären verknüpft und mit deren empirischen und metaphysischen Bedeutungsinhalten und Konnotationen spielend einen unerhörten, unheimlichen Vorgang komponiert. Dass dieser letztendlich mehr Fragen aufwirft als er Antworten gibt, ist eine der Stärken des Textes.

Axel Görlach


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