Mittwoch, 10. Dezember 2014

Preisträgertexte und Preisträger 3: Jürgen Flenker


Würdigung:
Die Liebe ist eigentlich eine ganz einfache Sache. Deswegen ist es meist so kompliziert. In seiner »romanze« spielt Jürgen Flenker ein raffiniertes Spiel mit unseren Erwartungen. Aus der Ich-Perspektive werden wir Zeugen einer besonderen Begegnung: Das lyrische Ich beobachtet durch die getönte Scheibe eines Zugabteils eine Frau auf dem Bahnsteig, »allein wie in erwartung von etwas / an das sie nicht glaubte«. Sie schaut ihn direkt an und weiß nichts davon. Etwas Großes liegt in der Luft: Aus einer Zufallsbekanntschaft könnte die schicksalhafte große Liebe erwachsen. Diese beiden Menschen waren dazu bestimmt, sich an diesem Tag zu dieser Stunde an diesem Ort zu treffen – oder doch nicht? Verlassen wir uns da etwa zu sehr auf die narrativen Muster, die in unserem Gedächtnis deponiert sind? Schon die dritte Strophe lässt uns zweifeln, mit »gesammelten verspätungen« und »frostschäden« und »rissen«. Und wenig später wissen wir, dass die Begegnung so folgenlos bleiben wird wie hundert andere an diesem Tag. Der Zug ruckt.

Jürgen Flenker (Jg. 1964) aus Münster veröffentlicht Lyrik und Prosa. Zuletzt erschienen der Lyrikband „das argument der kletterrosen“, Erzählungen unter dem Titel „Aufbrüche“ und der Roman „Ebers Ende“. Für seine Lyrik wurde er bereits 2013 beim Münchner Lyrikpreis ausgezeichnet 


Mittwoch, 3. Dezember 2014

Preisträger und Preisträgertexte 2


Dominik Dombrowski wurde 1964 in Texas/USA geboren. Er studierte an der Bonner Friedrich-Wilhelms-Universität Philosophie, Komparatistik, Vgl. Religionswissenschaften, Ältere und Neuere Literaturwissenschaften. Er lebt als freier Autor, Lektor und Übersetzer. Zuletzt erschienen von ihm die Lyrikbände Finnissage (2013) und Fremdbestäubung (2014). Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet und gefördert. Zuletzt erhielt er 2014 ein Arbeitsstipendium der Kunststiftung NRW sowie ein Aufenthaltsstipendium im Künstlerdorf Schöppingen. Der postpoetry-Preis wurde ihm in der Kategorie "Lyriker NRW" für seinen Text "Eröffnung" zugesprochen. 



Würdigung: 
In „Eröffnung“ von Dominik Dombrowski werden wir unmittelbar in den Text gezogen. Dank gewitzter Zeilenanordnungen ergeben sich überraschende Bilder und wir finden uns im poetischen Kosmos eines schlaflosen Ichs wieder, das „ein Spaziergänger geworden“ ist. Sein Hund ist nur geliehen, doch das Tier kennt den nächtlichen Weg zur Raststätte. Dem Spaziergänger fehlt ein menschliches Gegenüber, auf einem Campingstuhl spielt er gegen sich selbst Schach – ein Wanderer zwischen den Welten, zwischen Tag und Nacht, wie die beiden „Könige Ohneland“, die er zum Spielen benutzt. Voller Melancholie und mit einem feinen Humor, in einem ganz eigenständigen,  gegenwärtigen Tonfall nimmt uns dieses Gedicht für sich ein. Es wird eine stille nächtliche Welt gezeichnet, in der Benzintürme „sich die Pistolen gegen die eigene Stirn halten“ – ein Bild, das nebenbei eine weltpolitische Problematik andeutet – und in der man als Mensch ein Wanderer bleibt. Zuflucht bei den Überlandbussen zu suchen scheint ein hoffnungsloses Unterfangen, dennoch geht eine seltsame Zufriedenheit von den Tätigkeiten des lyrischen Ichs aus. „Verträumt“ sind sie und wirken selbstgenügsam, obwohl der Schachspieler „umzingelt von der Geschwindigkeit“ ist. Er befindet sich wie im Auge des Sturms einer fragwürdigen Gegenwart. Hier behandelt jemand gekonnt und mit originellem poetischem Blick die großen Fragen nach dem geglückten Leben. Ein Text, der mit seinen berührenden Bildern über sich hinausweist. Wir sind Spaziergänger, unterwegs zu den Raststätten der eigenen Existenz, Trost finden wir in den Momenten dazwischen oder auch beim Lesen solcher Gedichte. Die Eröffnung ist die erste Phase einer Schachpartie, in der das Spiel entwickelt wird. Eine Eröffnung kann auch eine Art Geständnis sein oder der Beginn eines Gesprächs. Der Titel ist vieldeutig. Er ist auch eine Einladung an den Leser, sich in dieses Gedicht zu begeben, aus dem wir nur aussteigen, um es erneut zu lesen.