Zur Anthologie „postpoetry.NRW – Poesiebotschaften aus fünf
Wettbewerbsjahren“, hrsg. von Monika Littau, Düsseldorf (Edition Virgines) 2015
Von Karin
Posth
Im Dezember 2015
erschien im Düsseldorfer Verlag „Edition Virgines“ die 180 Seiten starke
Anthologie „postpoetry.NRW - Poesiebotschaften aus fünf Wettbewerbsjahren“.
Versammelt sind in diesem Band die Preistexte des nordrhein-westfälischen
Wettbewerbs aus den Jahren 2010 bis 2014, ergänzt um einen sogenannten
„Zugang“, d. h. einem Auszug aus der Laudatio der jeweiligen Jury. Der Band
bietet auch weitere Texte der Autorinnen und Autoren sowie Kurzbiobibliografien
und Fotos.
Hat nicht Michael
Krüger die Vielfalt im Gedicht gelobt und zugleich empfohlen, täglich Gedichte
zu lesen? An dieser vielfältigen Anthologie hätte er vermutlich seine Freude,
und die Herausgeberin Monika Littau scheint das tägliche Gedichtelesen offenbar
auch Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern ans Herz legen zu
wollen, denn sie nennt diese Sammlung „Ein Lesebuch“.
Das
Projekt postpoetry.NRW, getragen von der Gesellschaft für Literatur in NRW e.
V. und weiteren Partnern, zeichnet seit
2010 jährlich fünf Gedichte von Lyrikerinnen und Lyrikern aus sowie fünf Gedichte von
Nachwuchsautorinnen und -autoren (im Alter von 15 bis 21 Jahren). Der Wettbewerb will die Lyrikszene in NRW und die Zusammenarbeit von
erfahrenen Lyrikerinnen und Lyrikern mit Nachwuchsautorinnen und -autoren
fördern. Unterstützt wird postpoetry.NRW vom Kulturministerium des Landes (MFKJKS) und der Kunststiftung NRW. Einzureichen
sind von den Bewerbern drei anonymisierte, unveröffentlichte Gedichte. Über die Textauswahl entscheiden zwei Jurys. Durch die jährlich wechselnde
Zusammensetzung hat sich in diesem Projekt keine Monokultur breitmachen können.
Hier wird bewusst Vielfalt gepflegt, veröffentlicht, verbreitet und
unterstützt: Die ausgewählten Texte erscheinen als künstlerisch gestaltete Postkarten (Auflage
20.000), die Verfasser der Texte erhalten ein „ordentliches“ Preisgeld.
Jungautoren und ältere Erfahrene tauschen sich in einem Workshop aus und lesen anschließend im Tandem in NRW. Bei aller Vielfalt haben jedoch
Texte, die nicht postkartentauglich, d. h. zu lang sind, keine Chance im
Wettbewerb. Diesen Hinweis würde man sich übrigens in zukünftigen Ausschreibungen wünschen!
Aber zurück zur Anthologie, die die verschickte und oft
weit gereiste Postkartenpoesie aus fünf Jahren nun zwischen zwei Deckeln zu
sichern weiß: eine Entdeckungsreise durch die Sprache, durch Bilder, Klang und
Rhythmus, durch die Fülle der lyrischen Erscheinungsformen.
Hier sind sie zu finden: das Prosagedicht mit
ausgeschriebener Verszeile (beispielsweise Marius Hulpe: „als Herr Bauer schon
gestorben war“, S. 31) und Verse, die bewusst mit dem Zeilenumbruch kalkulieren
(Walter Wehner: schnappschuss“, S. 61). Hier finden sich reine Kleinschreibung,
Groß- und Kleinschreibung, Texte mit und ohne Satzzeichen einvernehmlich
beieinander. Nur die Scheu vor dem Reim, sieht man von sporadischen Assonanzen
ab, scheint fast allen Verfasserinnen und Verfassern gemeinsam zu sein.
Hier sprechen das lyrische Ich, Du, Er, Sie, Es (in
Singular und Plural) und bekommen sogar gelegentlich einen Namen, wie in
Manfred Sestendrups „Paul-Gedichten“, S. 55:
„und im mai reißt der himmel auf
wie eine
prall gefüllt einkaufstüte
und um
paul rum
liegen
äpfel plätzchen ein buch eine flasche
auf
seiner ausgebreiteten decke“
Manches Gedicht verzichtet auf den Rollenfächer komplett.
Auch hier kann also das Lob auf die Vielfalt gesungen werden.
Und Themen? Ja, es gibt sie: Politik, Liebe, Alltag,
Gesellschaftskritik, Natur, Technik, Heimat, Kindheit, Alter, Trauer. Gedichte, nicht so "hoch-getunt"
(Christoph Bode), dass die Spielräume des Lesers fast beliebig wären, aber
trotzdem so vielschichtig, dass sich ein Wieder- und Wiederlesen lohnt.
Hier zwei Auszüge von Lyrikerinnen und
Lyrikern, die mich besonders berührt haben.
Bärbel Klässner „Hundert hertz“:
(...)
freileitungen
nur vier meter luft darunter
nichts
berühren an der stromführenden
leine
klammern die dicken vögel
siebenadriger
stahlkern ummantelt von
dreißig
mal aluminium und liebe sagt er
ist
gut für die kunst wenn es feucht wird
brummen
die seile gespannte saiten
downbeats
& bässe überland
Und Dominik Dombrowski „Eröffnung“:
Ich erwache öfters mitten in der Nacht im Fernseher / schwimmen
meine Goldfische bei den moderneren
Geräten / denke ich /
würde das gar nicht mehr / gehen /
ich bin ein Spaziergänger
geworden in meiner Garage / wohnen
jetzt nur mehr
ein paar Tiere
mein Leihhund / und ich sind ein eingespieltes Team
(...)
Ich könnte noch so viele Texte nennen, mit
denen ich Zwiesprache hielt: Thorsten Krämers „Zazen in der Metro“, Marie T.
Martins „ Und überall können wir singen“, Marcus Neuerts „Zimmer 213“, Jovan
Nikolićs
„Gelübde“, Gerrit Wustmanns „zaman/zeit“.
Erstaunlich ist es, dass sich unter den 19 Autoren der
Kategorie „Lyriker NRW“ 14 Männer befinden (!) und sich die Verhältnisse bei
den Nachwuchsautoren komplett umgekehrt darstellen: Von den insgesamt 27 jungen
Autoren sind nur
vier junge Männer. Ich versuche mir auf diesen Befund einen Reim zu machen:
Im besten Falle dürfen wir also erwarten, dass sich in den kommenden Jahren die
Zahl der Lyrikerinnen deutlich erhöhen wird. (Im schlechtesten Fall passiert
irgendetwas zwischen dem Engagement in jungen Jahren und den lyrischen Meriten
im fortgeschrittenen Alter, das uns unverständlich bleiben muss, zumindest
nicht durch die Besetzung der postpoetry-Jurys zu erklären ist. Dort wird
nämlich auf Geschlechterparität geachtet …)
So komme ich also zu einigen Beobachtungen
bei den jungen Autoren. Viele von ihnen haben inzwischen ihre Texte in Literaturzeitschriften
und in Anthologien veröffentlicht und waren Preisträger bei anderen
Wettbewerben. Jason Bartsch hat es sogar schon in das Jahrbuch der Lyrik 2015
geschafft.
Die Nachwuchsautorinnen und -autoren sehe
ich in ihren
Gedichten auf der Suche: Sie setzen sich mit Lebensformen auseinander, denken dabei
an das Ende der Kindheit, das Erwachsenwerden, Vorschriften und Regeln,
Beziehungen, Leben und Tod, Freiheit, Suche nach Heimat, Einsamkeit,
Trennungen, Gewalt, virtuelle Scheinwelten. Sie haben beim Schreiben den Mut, gewohnte
Bahnen zu verlassen, verwenden Neologismen, neue
Wortkombinationen, unverbrauchte Bilder und zeigen insgesamt ein großes
Sprachgefühl und -bewusstsein. Auch hier
zwei Beispiele.
Franka Niebeling in ihrem Text „Und“, in dem
sie eine Schreibblockade thematisiert:
(…)
zickzackfarbene fehler
tanzen
schadenfroh im augenlidinneren
während
des zusammenhängenden krampfhaftersuchs
es nicht zu verlieren
(...)
all das schwarz zurückschubsen
in mundloses niedagewesensein
(…)
und Sarah Gerwens, die sich in „Wiedergänger“
mit dem Bombenanschlag und den Morden am 22.7.2011 in Olso und auf der Insel
Utoya befasst:
(…)
der
Rest ist Schweigen und Schwere
auf
allen Silben der Nachrichtensprecher
sie
sprechen von einem Septembermonat
in
Albtraummonologen
(…)
Das
Buch schließt ab mit Gedichten und
Zugängen von Mentorinnen und Mentoren, die im ersten Wettbewerbsjahr die jungen Preisträger
begleiteten. Danach wurde das
Konzept geändert und Jung und Alt arbeiten paritätisch zusammen.
Komme ich nun zurück zu Michael Krüger und seinem Plädoyer:
Jeden Tag ein Gedicht und Vielfalt statt Monokultur: "Die Kultur wird nur dadurch überleben, daß
verschiedene Leute sich verständigen, gegen den herrschenden Geschmack.
Jenseits des Mainstream wird es bestimmte Pfade geben, da wird an einem Busch
nur ein Ast geknickt sein, als Zeichen, und einige wenige werden den Weg finden
und nicht weitergehen, zum großen Hotel, wo die Unterhaltungsmusik
spielt."[1]
Der Vielfalt wird in dieser Anthologie Rechnung getragen,
und das ist das Schöne an ihr. Wer genau liest, mag hier und da an einem Busch
einen geknickten Ast entdecken. Und jeder wird etwas anderes finden können,
denn „Soviele
Köpfe, soviele Lesarten, eine richtiger als die andere" (Hans Magnus
Enzensberger).
Deshalb empfehle ich Ihnen dieses schön gestaltete Lyriklesebuch, das nicht nur
gut in der Hand liegt, sondern
Lust macht, sich vielfältigen
Gedichten mit unterschiedlichsten Lesarten anzunähern.
[1] „Kein
Tag ohne Gedicht“. Der Münchner Verleger Michael Krüger haßt Monokulturen und
liebt die Vielfalt, in: Die Welt vom 24.07.1999
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen